Jean-Yves Le Drian und Heiko Maas: „Nein, der Multilateralismus ist nicht überholt!“ [fr]
Beitrag des deutschen und des französischen Außenministers für die französische Tageszeitung Le Figaro.
Veröffentlicht am 12. November 2019 - Le Figaro
Vor einem Jahr gedachte Europa gerade dem 100. Jahrestag des Waffenstillstands, als das erste Pariser Friedensforum eröffnet wurde. Heute, am Tag nach den Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin, nehmen wir gemeinsam an der Eröffnung des zweiten Forums teil.
Ein eindrucksvoller Bogen zwischen diesen beiden historischen Ereignissen – das erste Ereignis beendete die erste der beiden großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die sich im Wesentlichen auf europäischem Boden abspielte, das zweite Ereignis ließ siebzig Jahre später endlich auf eine Aussöhnung unseres Kontinents und die Möglichkeit hoffen, gemeinsam unser aller Schicksal zu gestalten.
Der Zusammenklang zwischen diesen beiden Jahrestagen erinnert uns daran, dass es Europa noch stets gelungen ist, auch die bittersten Spaltungen zu überwinden und aus den eigenen Ruinen wieder neu zu entstehen. Er wird der Europäischen Union als einer einmaligen Errungenschaft gerecht, die Demokratie gesichert und den Frieden zwischen den Ländern, die sich gegenseitig so entsetzlich zerfleischt hatten, gebracht hat. Er erklärt, warum wir Europäer immer an vorderster Front stehen werden, wenn es darum geht, die Werte zu verteidigen, die das Herzstück des multilateralen Systems bilden. Der Multilateralismus ist nicht nur eine Methode, um die Angelegenheiten der Welt durch die Zusammenarbeit zwischen den Staaten zu regeln. Er ist auch eine ganz bestimmte Vorstellung von der Weltordnung und eine bestimmte Vorstellung von Menschheit, die auf dem Erbe der Aufklärung, der Entscheidung für die Rationalität, die Einhaltung der Rechtsnormen und dem Streben nach gemeinsamem Fortschritt basieren. Im Namen dieser Prinzipien laden wir unsere Partner in der ganzen Welt dazu ein, sich gemeinsam mit uns gegen die dramatische Infragestellung zu wenden, die dem Multilateralismus und den Vereinten Nationen als der ihn symbolisierenden Organisation entgegengebracht wird.
In einer Welt, die zunehmend mit Gewalt und Ungleichheit zu tun hat, die sich im ökologischen Notstand befindet und die mit einer nie da gewesenen technologischen Revolution konfrontiert wird, ist dies ein eher überraschendes Paradoxon. Denn es ist ganz offensichtlich, dass gemeinsame Herausforderungen auch gemeinsame Antworten erfordern. Aber zum Wundern haben wir keine Zeit mehr. Wir müssen handeln.
Wir haben damit begonnen, einem neu gestalteten, inklusiveren Multilateralismus den Weg zu bereiten, der allen Akteuren, die heute von Bedeutung sind, offen steht: den Staaten, aber auch den Akteuren der Weltwirtschaft und den Vertretern der Zivilgesellschaft. Darin liegt das Bestreben der Allianz für den Multilateralismus.
Der Erfolg des ersten Ministertreffens der Allianz für den Multilateralismus am Rand der Generalversammlung der Vereinten Nationen im September hat gezeigt, wie viele unsere Auffassung teilen, dass der Multilateralismus mehr ist als eine schlichte Arbeitsmethode. Er ist ein gemeinsames Gut, das es zu bewahren gilt. Über fünfzig Außenminister von allen Kontinenten stehen nun an unserer Seite.
Es handelt sich dabei nicht um eine neue internationale Organisation, sondern um ein flexibles Netzwerk von Außenministern aus allen Regionen der Welt, die entschlossen sind, die globale Ordnungspolitik zu stärken und konkrete Antworten auf Themen zu geben, bei denen wir gemeinsame Interessen und Werte verteidigen müssen: Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht, kollektive Sicherheit, Abbau von Ungleichheiten, Zukunftstechnologien und globale Kollektivgüter, wozu natürlich zuallererst das Klima zählt.
Heute tritt die Allianz für den Multilateralismus beim Pariser Friedensforum zusammen, um über ein wichtiges Thema zu sprechen: die Regulierung der digitalen Welt.
Ohne die entsprechenden Regeln könnte dieser Raum ohne Grenzen zu einer völlig neuartigen rechtsfreien Zone von nie dagewesener Tragweite werden. Wenn wir verhindern wollen, dass sich die Eingriffe in die Privatsphäre der Bürger, die Angriffe auf kritische Infrastrukturen, die Industriespionage, die Informationsmanipulationen oder auch der Hass im Internet häufen, müssen wir uns miteinander abstimmen und die Grundsätze und Instrumente des 21. Jahrhunderts erdenken. Staaten, Konzerne, internationale Organisationen, Journalisten, Zivilgesellschaft – wir alle können eine wichtige Rolle dabei spielen, damit die digitale Revolution ihre Versprechen von Freiheit, Austausch und Wohlstand auch hält.
Unsere Allianz, die in verschiedenen Formaten und Zusammensetzungen tagt, wird am 10. Dezember in Berlin anlässlich des Internationalen Tags der Menschenrechte wieder zusammentreffen. Sie wird danach auch erneut am Rande der Münchener Sicherheitskonferenz zusammenkommen.
Ein Verzicht auf den Multilateralismus, weil sich einige zurückziehen und andere die internationalen Organisationen zu eigenen Zwecken instrumentalisieren, hieße, ein Leben in einer Welt ohne Sicherheitsnetz zu akzeptieren. Wir, Frankreich und Deutschland, und in weiterem Sinne wir Europäer, denen die Geschichte gelehrt hat, wie hoch der Preis der Spaltung ist, werden uns nicht mit diesem Rückschritt abfinden. Auch unsere Partner nicht. Wir sind weiterhin die größte Gruppe.
(Quelle der deutschen Übersetzung: Auswärtiges Amt)